Rückblick
„Was wollen und können wir aus Unfällen lernen?“ lautete die Leitfrage der
42. Fachveranstaltung des Netzwerks Risikomanagement, die im angenehm klimatisierten Hans-Lütolf-Auditorium der Hochschule Luzern am 27. Juni 2019 unter Moderation von Jens O. Meissner, Professor für organisationale Resilienz an der HS Luzern, über die Bühne ging. Ein engagiertes Publikum von gut 30 Teilnehmenden folgte drei höchst interessanten Referaten zur Unfallanalyse aus der Perspektive einer Hochzuverlässigkeits-Organisation (SBB AG), eines Unfallversicherers (SUVA) sowie eines zertifizierten Unfall-Gutachters (Nationales Sicherheitsbüro Industrie & Verkehr NSBIV AG).
Die Eisenbahn ist in der Schweiz bereits heute das sicherste Landverkehrsmittel – und sie wird immer sicherer, hält Marcel Huser, Stv. Leiter Sicherheit SBB Konzern, Riskmanager Safety und ehemaliger Lokführer, zu Beginn seines Referats über die Ereignisanalyse (EA) bei den SBB fest. Auf dem Weg zu einer Hochzuverlässigkeits-Organisation (HRO) kommt der innerbetrieblichen Untersuchungsform im Safety-Management-System zentrale Bedeutung zu. Ihr Gegenstand ist die Analyse von unsicheren Handlungen und Zuständen (UHZ) bzw. Ereignissen, und sie verfolgt zwei Ziele: Erstens die Ursachen, Umstände und Zusammenhänge des Einzelereignisses umfassend zu verstehen und Massnahmen zu ergreifen, zweitens das Big Picture zu erkennen, d.h. Muster, Trends und Drifts, die zu UHZ führen können. Dabei stellen die SBB die EA auf die vier Säulen Fairness, Offenheit, Weiterentwicklung sowie achtsames Handeln. Die Analyse selbst wird in den vier Hauptschritten Sammeln, Analysieren, Interpretieren und Verbessern durchgeführt und in der ESQ-Datenbank (Ereignisse, Sicherheit, Qualität) erfasst. Da die EA dem SBB-internen Wissenserwerb dient, verläuft sie grundsätzlich unabhängig von den Untersuchungen anderer Akteure (SUST, ggf. polizeiliche Ermittlungen). Namentlich gilt es, die aussagenden Mitarbeiter zu schützen (Vertraulichkeit), um einen optimalen Informationsgewinn zu realisieren.
Thomas Kilchör, Sicherheitsingenieur und Teamchef bei der SUVA in der Ausbildung von Kadern und Sicherheitsfachleuten, steigt mit einem Vergleich in sein Referat zur Ereignisabklärung SUVA ein: Aus der Produktentwicklung wissen wir, dass die Kosten einer Fehlerbehebung im fortschreitenden Entwicklungsprozess exponentiell zunehmen (Zehnerregel der Fehlerkosten). Analoges gilt für den Umgang mit Unfällen: Es ist ungleich viel günstiger, die Betriebsressourcen in die Prävention kritischer Ereignisse zu stecken als in deren Bewältigung. Für eine wirksame Prävention ist die systematische Ereignisabklärung zentral: Was ist genau geschehen und warum hat es sich so zugetragen? (Ermittlung und Analyse von Verlauf und Ursachengeflecht g Ursachenbaum.) Gleichzeitig ist das Spektrum der betrachteten Ereignisse breit zu halten – auch kritische Vorfälle ohne direkte Unfallfolge zählen dazu (Folgerung aus dem Eisbergprinzip). In der Massnahmenplanung werden die Erkenntnisse der Ereignisabklärung schliesslich praktisch verwertet. Dabei ist unter dem Aspekt der Zeitfolge zu beachten, dass nach den Sofortmassnahmen relativ rasch definitive Massnahmen ergriffen und als Teil des Sicherheitssystems umgesetzt werden. Unter dem Aspekt der Rangfolge sind die Massnahmen höchster Wirkung zu priorisieren (substitutive vor technischen vor organisatorischen vor personenbezogenen Massnahmen ⇒ S-T-O-P). Für die systematische Ereignisabklärung bietet die SUVA diverse Hilfsmittel sowie ganze Kurspakete an.
Aus einer dritten Perspektive – jener des Gutachters von Unfallereignissen – referiert Thomas Amrein, Sicherheitsberater bei der NSBIV AG (Nationales SicherheitsBüro Industrie & Verkehr). Anhand eines Unfall-Beispiels mit schwerer Körperverletzung stellt er die Aufgabe verschiedener Akteure in der Ereignisabklärung jener des Gutachters gegenüber: Während die Polizei und die Staatsanwaltschaft zu strafrechtlich relevanten Handlungen ermitteln (wer trägt die Schuld?), stehen für die Versicherung Haftungsfragen im Zentrum (wer trägt die Kosten?). Der Gutachter seinerseits fokussiert auf die Handlungen aller beteiligten Parteien und zeichnet entlang eines Ursachenbaums das Unfall-Szenario nach. Folgende Fragen leiten seine Abklärung: Wurden die Vorschriften sowie die gängigen Regeln des Wissens und der Technik pflichtgemäss angewendet? Welche Fehler wurden begangen? Welche Abwehrsysteme haben versagt? Welche Gesetze wurden missachtet? Dabei handelt der Gutachter als Fachexperte im Mandat eines Auftraggebers, z.B. der Justiz (Gericht, Staatsanwaltschaft), einer Versicherung oder einer betroffenen Partei. Letztlich dient die Ereignisabklärung aber auch hier dem Erkenntnisgewinn, damit die Arbeitssicherheit mit einem optimalen System präventiver Massnahmen verbessert werden kann.
Das anschliessende Podium wird zur angeregten Diskussion zwischen Referenten, Moderation und Publikum, die ihre Fortsetzung am feinen Apéro auf dem Dachstock findet, z.B. über den Umgang mit unternehmensinternen Interessenkonflikten bei Unfallanalysen oder über die Bedeutung grosser Datenanalysen als Trendmelder sowie als Grundlage von Präventionskampagnen.
Die Folien finden Sie nachfolgend im PDF zum Herunterladen: